„A Göttingen“ – ein Chanson mit großer Story
Niemand in Frankreich kennt Göttingen, meine Stadt. Aber jeder Franzose und jede Französin kennt die große Sängerin Barbara und ihr Lied „A Göttingen“ und fast alle sagen: „Une très belle chanson!“. Einige fragen auch erstaunt: „Mais oui!!! Göttingen, ca existe vraiment?“ Umgekehrt kennen Deutsche in der Regel Göttingen, aber nicht das Lied von Barbara.
Dabei gibt es eine berührende Geschichte zu dem Lied, das die jüdische Sängerin Barbara, die eigentlich nie nach Deutschland wollte, 1964 genau hier geschrieben hat. Das Städtische Museum hat Barbara und dem Lied eine kleine Sondersausstellung gewidmet. Vor unserem Sommerurlaub in Frankreich bin ich natürlich nochmal hingegangen. Tja, das war dann allerdings schon im Juni. Ich habe einen wunderbaren Tag erwischt.
Die Ausstellung füllt nur einen Raum und als ich eintrete, ist schon ein beglücktes Summen in der Luft. Besucher hören mit Kopfhörern historische Aufnahmen und summen mit. Da das Lied ein Ohrwurm ist, hört das Summen nicht mehr auf. Kurz darauf fällt ein ganzer Schwarm internationaler Studenten ein und diskutiert in allen Sprachen. Sie arbeiten an einem geschichtlichen Thema und wollen danach noch in „alle möglichen anderen Museen“ – was mich irritiert, denn Göttingen hat vieles, aber nicht „alle möglichen anderen Museen“. Im Grunde gibt es so ungefähr nur dieses.
Dann beuge ich mich auch über die Vitrinen mit alten Briefwechseln,betrachte die Photos und höre die Zeitzeugen an. Als ich wieder ins Freie trete, scheint plötzlich die Sonne. Unter dem großen Plakat von Barbara sitzt einer der Studenten und klimpert auf seiner Gitarre, Rosen blühen im Vorgarten des Museums und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Barbara meine Stadt ganz ähnlich erlebt haben muss – im Juni vor über 50 Jahren.
Und hier ist das kleine Lied mit der betörenden Melodie die einem sofort in Gehör und Gehirn kriecht und bei dem ich jedes einzelne Mal mindestens feuchte Augen bekomme (schlimm!). Im Anschluss singt Carla Bruni ihre Version. Freundlicherweise ist das Video mit spanischen Untertiteln versehen.
Darum geht es: Wenn sich Menschen kennen, kann Hass die Welt nicht zerstören. Also: Reisen!
Erstmal stellt Babara fest, dass Göttingen anders ist als Paris: „Bien sûr ce n’est pas la Seine…“. Von Göttingen gibt es keine Lieder, aber schön ist es trotzdem mit seinen Rosen. Und es gibt überraschend viele Gemeinsamkeiten. „Hermann, Helga, Peter und Hans“ (das ist die deutsche Übersetzung) kennen sich fast besser als die Franzosen in französischer Geschichte aus. Und auch die Märchen beider Länder sind dieselben. Mehr noch: Sie haben ihren Ursprung in Deutschland. Es geht um die „blonden Kinder“ in Göttingen. Hier ist nun wirklich anzumerken: Die Göttinger Kinder sind keineswegs blonder als anderswo und bestimmt nicht so blond wie in der Nazipropaganda. Der zentrale Satz ist: „Mais les enfants sont les mêmes, à Paris ou à Göttingen“ – überall auf der Welt sind die Kinder gleich. Und dann das Bekenntnis zur Versöhnung: „Lass diese Zeit nie wiederkehren und nie mehr Hass die Welt zerstören: es wohnen Menschen die ich liebe, in Göttingen, in Göttingen. Doch sollten wieder Waffen sprechen, es würde mir das Herz zerbrechen.“ So heißt es in der deutschen Übersetzung, ehrlich gesagt ist diese Passage im Französischen aber zurückhaltender.
Hier sind die Texte in beiden Sprachen.

Rosen für Barbara, hier schon leicht verblüht. Das Erblühen war natürlich eine Nachricht wert in der Tagespresse.
Und dies ist die Story: Barbara „à Göttingen“
Nie wollte die jüdische Sängerin nach Deutschland – und dann schreibt sie so ein Lied? Was ich fast genauso mag wie das Lied selber, ist seine Geschichte. Es ist eine Geschichte von Krieg und Frieden, von Vorurteilen und Ängsten, von Reisen, Begegnung und Verbindung. Ganz großes Kino also.
Eine jüdische Kindheit im besetzten Frankreich: die Deutschen sind der Erzfeind.
Barbara, 1930 als Monique Serf geboren, entstammt einer jüdischen Familien, die mehrmals vor den Deutschen fliehen musste und während der Occupation jahrelang versteckt lebte.
Sie will nicht nach Deutschland, aber ein paar junge Deutsche überreden sie.
Eine sehr aktive Göttinger Studentin, Sybille Penkert, hat Barbara auf einer Frankreichreise kennengelernt. Auch der junge Intendant des Göttinger Jungen Theaters erlebt sie bei einem Auftritt in Paris. Beide versuchen, Barbara zu einem Auftritt in Göttingen zu bewegen. Unzählige Briefe gehen hin- und her. Barbara windet sich. Keine Zeit, zu wenig Geld, schlechte Bedingungen. Das muss sehr zäh gewesen sein, so mit echter Briefpost damals. Barbara schreibt in ihren Memoiren selber, wie viele Vorbehalte sie hatte, nach Deutschland zu kommen. Nachzulesen hier.
Schließlich lässt sich Barbara aber doch überreden. Es ist wohl gelungen, das Junge Theater und sein studentisches Publikum interessant zu machen. Sie akzeptiert ein für ihre Verhältnisse niedriges Honorar von 450 Mark für drei Abende und reist tatsächlich an.
Katastrophe in Göttingen: Nur ein altes Klavier! Barbara will ihren Auftritt absagen.
Beim Gang durchs Theater sieht sie dann das Klavier auf der Bühne und nichts ging mehr. So könne sie nicht spielen, der Vertrag laute auf einen Flügel und so werde sie auf keinen Fall auftreten, alles müsse abgesagt werden. Ich habe mir diese Szene immer irgendwo zwischen Diva und Zicke vorgestellt, aber scheinbar ist Barbara einfach kraftlos in sich zusammensackt. Ein Auftritt mit diesem Klavier: Schlicht nicht möglich.
Die Rettung: Studenten leihen einen Flügel bei der Nachbarin und schleppen ihn ins Theater.
Nun kommt eine Gruppe Studenten ins Spiel, die sich auf die Suche nach einem Flügel begibt, bei einer Nachbarin klingelt, und dort kurzerhand einen Flügel ausleihen und mitnehmen kann. So spontan hätte sicher nicht jeder Flügelbesitzer seinen Flügel einer Studentengruppe anvertraut… Vom Flügeltransport gibt es einige Fotos zu sehen, fast schon so wie in Smartphonezeiten. Der Abend ist gerettet.
Gefeierte Auftritte – und plötzlich ein neuer Blick auf die Stadt und ihre Menschen.
Das Göttinger Publikum feiert Barabra drei Abende lang. Der Intendant hat extra einen Rosenwerfer engagiert, was die kurzsichtige Barbara leider gar nicht bemerkte Das Engagement wird verlängert. Die Studenten zeigen Barbara die Stadt. Sie lernt Göttingen kennen und mögen, lernt Leute kennen und mögen, fühlt sich offenbar wider eigenes Erwarten wohl bei den einst so verhassten Deutschen.
Stille Stunde im kleinen Garten: das Lied entsteht.
Am letzten Nachmittag sitzt Barbara im Garten des Jungen Theaters zwischen blühenden Rosen und wird von der Muse geküsst. An diesem Nachmittag schreibt sie eine erste Fassung ihrer Hommage an Göttingen. Später kommt die Musik dazu.

Heute das Kino Lumière, früher Spielstätte des Jungen Theaters.
Fast zu perfekt, die Story? Perfektes Story-Telling vielleicht?
Vielleicht. In der Ausstellung kann man sich auch ein Interview mit dem Beleuchter des Jungen Theaters anhören. Er ist 1935 geboren und übt diese Tätigkeit erstaunlicherweise noch immer aus, heißt es. Ihm war die Szene um das Klavier damals gar nicht weiter aufgefallen. Wahrscheinlich, meint er, weil einfach jeder Künstler, der reinkam, auf das Klavier tippte und sagte: “Auf dem Ding spiele ich nicht“. Er weist dann noch darauf hin, dass am Theater eben Geschichten erzählt und inszeniert werden. Dazu sei das Theater ja da. Und diese Story ist wirklich gut erzählt. Wie für den Französischunterricht oder den Geschichtsunterricht gemacht. Vorurteile und Begegnung, armes Theater und erfolgreiche Künstlerin, Menschen, die etwas bewegen, Emotionen, Musik – alles da.
Das Lied der Deutsch-Französischen Freundschaft
Wie auch immer. Das Lied wird zu einer Art Hymne der deutsch-französischen Versöhnung. Barbara spielt es am Ende jedes ihrer Auftritte. Ihre erfolgreichste Zeit beginnt mit „A Göttingen“. Die Göttinger versuchen, sie zu einem erneuten Auftritt zu bewegen. Jetzt geht es klein-klein. Ihre Managerin schreibt, wie hoch die Gage in der Schweiz ist, wieviel besser dort die Bedingungen seien, welcher Anfahrtsluxus dort bezahlt werde und überall sonst. Kurz gesagt: für das kleine Junge Theater in Göttingen ist Barbara nun out of range.
Nach Göttingen kommt sie aber doch noch einmal, diesmal in die neueröffnete Göttinger Stadthalle, die schon damals mit ihren lila Fliesen zu beeindrucken wusste. Diesmal spielt sie vor großem Publikum. Das Konzert wird von France Inter live übertragen. Auch die Göttinger aus der Entstehungszeit des Liedes werden interviewt. Dieses Lied kommt eben immer zusammen mit der Aura seiner Geschichte. Am Ende singt Barbara das Lied dann auf Deutsch, vorher kämpft sie aber noch mit den Tränen.
Später wird Barbara natürlich geehrt. Mit dem Bundesverdienstkreuz, mit der Göttinger Ehrenmedaille. Und Rosen aus Göttingen werden ihr immer noch jedes Jahr aufs Grab gelegt.
Hätte nicht Gerhard Schröder den Flügel tragen können?
Nein, zu schade für die Story! Er kam erst 1966 zum Studieren nach Göttingen. Aber zu dem Konzert 1967 hätte er ja gehen können, oder? Hat er den rauschenden Erfolg von Barbara nicht mitgekriegt? Oder gab es keine Karten mehr? Vielleicht musste er ja gerade eine Klausur schreiben. In seiner Rede zum 40. Jahrestag des Elyseevertrages spielt das Lied jedenfalls eine nicht unwichtige Rolle.
Was man dabei lernen kann?
Natürlich: Reisen bildet. Wo man Menschen begegnet und seine Ansichten reflektieren kann, entsteht Verständigung und vielleicht sogar Freundschaft. So wie die als Kind von den Deutschen verfolgte Jüdin Barbara singt: „ Les enfants sont les mêmes…“ So einfach.
Ziemlich sicher ist für mich, dass Barbara nicht nach Göttingen gekommen wäre und sich nicht so auf die Stadt hätte einlassen können, wenn die Studenten die sie herholten und begleiteten nicht so gut Französisch gesprochen und geschrieben hätten – ganz ohne Google Übersetzer. Verständigung hat eben auch mit Sprache zu tun.
Was man ganz sicher auch dabei lernen kann: es sind die kleinen Theater, die echte Begegnungsstätten sein können und an denen einzelne viel bewegen. Und auch für große Künstler kann ein Engagement „unter Niveau“ genau richtig sein. Die Story muss aber gut erzählt sein.

Hommage à Barbara für den Vorgarten
Nach Frankreich mit Barbara
In Frankreich kennt kein Mensch meine kleine Stadt. Niemand! Zweifelnde Blicke, wenn ich beschreibe, dass meine Stadt so ungefähr „au centre de l’Allemagne“ liegt, oder auch „près de Hanovre“ oder „au sud de Hambourg“. Aber wenn ich sage: „Tu connais la chanson de Barbara? A Göttingen?“, dann erhellen sich sofort die Blicke. „Der Chanson hat mir bisher jede Frankreichreise verschönt, denn sowie man auf das Lied zu sprechen kommt, ist sofort war eine Verbindung da, Interesse.
Mein schönstes Erlebnis mit dem Lied…
Das war ein ganz besonderer Moment: Wir saßen mit unseren Chambre d’hôte Gastgebern beim Essen am großen Tisch, plauderten über dies, radebrechten über jenes und natürlich auch über Göttingen. Da entpuppte sich unser Gastgeber als leidenschaftlicher Verehrer Barbaras, der als Travestiekünstler mit ihren Liedern als Travestiekünstler durch die Provinz tingelte. Wunderbar!
Vergessen ist „A Göttingen“ vielleicht in Deutschland, sogar in Göttingen. In Frankreich nicht. Sogar bei der französischen Ausgabe von „The Voice“ war es vor ein paar Jahren in einer sehr emotionalen Version zu hören.
So. und nun muss ich das Lied wieder aus dem Kopf kriegen.
Lohnt sich die Ausstellung?
Für Göttinger, Barbara Liebhaber und vielleicht auch andere Frankophile natürlich unbedingt! Für alle anderen womöglich weniger. Meine Jungs hätte ich wirklich nicht mit reingenommen, da es vorwiegend Texte (die alten Briefe) und Hördokumente zu sehen und zu hören gibt. Die wirklich kleine Ausstellung ist noch bis Ende November 2016 zu sehen. Der Besuch ist gratis. Strenges Fotoverbot „wegen der Urheberrechte“ und auch sonst bei meinem Besuch sehr grummelige Aufsicht.